Arm oder reich?

Zur Umverteilungswirkung der österreichischen Transfersysteme

Budgetkonsolidierung und Schuldenabbau sind primäre Diskussionsthemen der letzten Monate und - im Sinne einer fortschreitenden EU-Integration - unaufschiebbare Hauptaufgaben der gegenwärtigen Bundesregierung.

In diesem Zusammenhang und als Grundlage für verteilungspolitische Diskussionen wird wiederholt die vor einigen Monaten publizierte und auf umfangreichem Datenmaterial basierende WIFO-Forschungsarbeit "Umverteilung durch öffentliche Haushalte" herangezogen.

Einige der wichtigen Befunde dieser Studie zur sozialen Wirksamkeit der bestehenden öffentlichen Transfersysteme sind folgende:

  1. "Aus vertikaler Sicht flossen 1991 zwei Drittel der Familienförderung in die obere Hälfte der Einkommensverteilung." Eine entsprechende statistische Zusammenstellung zeigt, daß auf das obere Einkommensdrittel aller Unselbständigenhaushalte ein Anteil von 42,6 % an den gesamten Transferausgaben im Rahmen der Familienförderung entfällt.

  2. "... auf das unterste Drittel (entfallen) S 18.600,- Gesundheitsleistungen pro Haushalt ... Das sind 25,5 % aller Gesundheitsausgaben... Im obersten Drittel fallen 40,5 % ... der Ausgaben an. Das sind S 29.800,- pro Haushalt ..."
    "Die Haushalte in den oberen Haushaltseinkommensbereichen profitieren damit überproportional von den Gesundheitsausgaben."

  3. Sowohl von den Schul- als auch von den Hochschulausgaben entfallen laut WIFO-Studie auf das oberste Einkommensdrittel circa die Hälfte der Ausgaben (47,7 bzw. 55,2 %).

  4. Bezüglich der Wohnbauförderung wird u.a. festgehalten: "Je höher das Haushaltseinkommen, umso größer sind die Wohnungen und umso höher sind damit auch die Förderungssummen."

Alle diese - z.T. unplausibel wirkenden - Aussagen basieren auf einem unscharfen Einkommensbegriff und verleiten daher zu unzulässigen Schlußfolgerungen in Bezug auf die soziale Wirksamkeit der angesprochenen Transfersysteme.
Als Grundlage der sozialen Differenzierung der österreichischen (Unselbständigen-)Haushalte wurden die Netto-Haushaltseinkommen der Mikrozensus-Erhebung des Statistischen Zentralamts (ÖSTAT) vom September 1991 verwendet.

Eine Einkommensschichtung aller Haushalte ohne Differenzierung ihrer Größe erlaubt jedoch keine unmittelbare Aussage, ob der betreffende Haushalt zu den eher "reicheren" oder eher "ärmeren" gehört.

Die obenstehende Graphik der Einkommensverteilung der Unselbständigenhaushalte ist der Studie „Das Ende der Wohnbauförderung“ des Verfassers entnommen. Sie zeigt, daß 1993 ein Haushaltseinkommen (Jahreszwölftel) von S 15.000,- für Ein-Personen-Haushalte einen überdurchschnittlichen Wert darstellt, da nur ca. 40 % der Haushalte dieser Größe über ein höheres Nettoeinkommen verfügten. Gleichzeitig wurde derselbe Wert von rd. 90 % aller Drei-Personen-Haushalte übertroffen. Ein derartiges Einkommen würde daher für diese - und größere - Haushalte ein "Armutszeugnis" ablegen.

Anders formuliert: die Einkommen größerer Haushalte sind tendenziell merklich höher. Dies bedeutet, daß das durchschnittliche Einkommen aller Haushalte für größere Haushalte im unteren („ärmeren“) und für kleinere Haushalte im oberen ("reicheren") Bereich liegt. Aussagen, die z.B. diesen "mittleren" Einkommensbereich betreffen, umfassen also völlig verschiedene reale Einkommensverhältnisse. In gleicher Weise sind daher Haushalte des oberen Einkommensdrittels nicht unbedingt als "reich" einzustufen, wenn sie aus überdurchschnittlich vielen Personen bestehen.

In der WIFO-Studie wird zwar mehrfach angeführt, daß die Haushalte mit höheren Einkommen tendenziell größer sind als jene geringerer Einkommen. Diese Erläuterung geht jedoch in das präsentierte Zahlenwerk und die auf ihnen basierenden Schlußfolgerungen fast nicht ein.

Dieser Problematik unterschiedlicher Haushaltsgrößen kann mit zwei Methoden begegnet werden:

  1. Anstelle der Haushaltseinkommen werden die Pro-Kopf-Einkommen herangezogen, wie sie vom ÖSTAT ermittelt werden.

    In dieser Weise werden die Mitglieder eines Haushalts je nach Alter (und event. Berufstätigkeit) mit sogenannten "Äquivalenz-faktoren" gewichtet, wodurch ein Vier-Personen-Haushalt rechnerisch z.B. aus nur 3,3 Personen bestehen kann. Haushalte gleichen Pro-Kopf-Einkommens können dann - ungeachtet ihrer tatsächlichen Größe - einen näherungsweise gleichwertigen Aufwand bestreiten.

    (Auf diesen Zusammenhang wird zwar im Kapitel "Primär-einkommen" der WIFO-Studie eingegangen, doch wird er in den übrigen Kapiteln kaum berücksichtigt, da alle weiteren Tabellen ohne Äquivalenzfaktoren ermittelt wurden.)

  2. Die Gesamtheit aller Haushalte wird zuerst nach Haushaltsgröße unterteilt und in der Folge nach Einkommen geschichtet.

    Diese Vorgangsweise hat der Verfasser in der bereits genannten wohnungspolitischen Studie gewählt. In dieser Form konnten Untersuchungen zur sozialen Treffsicherheit der österreichischen Wohnbauförderung vorgenommen und - auf ihnen aufbauend - konkrete Optimierungsvorschläge formuliert werden.

    In gleicher Weise ließen sich auch aussagekräftigere Befunde zur Umverteilungswirkung von anderen Transfersystemen ermitteln.

Keiner dieser Wege wurde jedoch in der grundsätzlich begrüßenswerten WIFO-Studie beschritten. Somit kann sie die Frage, ob tatsächlich die jeweils besserverdienenden Haushalte jeder Haushaltsgröße überproportional in den Genuß von Transferleistungen kommen, nicht beantworten.

Als Basis und Entscheidungshilfe für grundlegende politische Entscheidungen zur Umgestaltung der österreichischen Transfersysteme im Sinne einer Budgetsanierung scheinen daher die aus der Studie zitierten Aussagen bedauerlicherweise unzureichend.

Es wäre demnach zu begrüßen, wenn die Autoren in einem Nachtrag eine nach Haushaltsgröße differenzierte Auswertung des Datenmaterials vornehmen könnten, um die bereits vorgelegten Befunde zu präzisieren oder zu modifizieren.